Am 6. April 2022 verlegte Katja Demnig in der Martinstraße 15 in Darmstadt Stolpersteine für die Familie Mayer – für Wilhelm und Recha Mayer sowie für deren Tochter Johanna und ihren Sohn Erwin Simon. Angehörige der Familie waren anwesend oder online zugeschaltet.

Stolpersteinverlegung am 6. April 2022, Darmstadt, Martinstraße 15

Die Patenschaften für die Stolpersteine übernahm das Goethe-Gymnasiums Bensheim. Florian Schreiber, Lehrer für Geschichte an dem Gymnasium und Projektleiter, dankte dem Arbeitskreis Stolpersteine, die Erinnerungsarbeit unterstützt zu haben. Der BrechtGeschichtswerkstatt dankte er dafür, dass sie sich mit einem Auszug aus ihrer Projektarbeit über Zwangsarbeit und Verfolgung durch Gestapo und Justiz in den Jahren 1939-1941 in Darmstadt, zu deren Opfern auch Wilhelm Mayer zählte, beteiligte.
Da für die Jahre 1939-1941 seitens der Familie Mayer kaum Egodokumente erhalten sind, basierte der Beitrag, den wir auf Anfrage von Florian Schreiber gerne für die Stolpersteinverlegung vorbereiteten auf den Recherchen des Gesamtprojekts.
Für den hier nun folgenden Einblick in Wilhelm Mayers Biografie wurden das Entschädigungsverfahren für Wilhelm und Recha Mayer und die Dokumente aus den Arolsen Archives gesichtet sowie mit Prozessakten und weiteren Dokumenten aus den Archiven Darmstadt und Wiesbaden gearbeitet.


Erinnerungen an Wilhlem Mayer

Wilhelm Mayer wird am 10. September 1889 in Reichenbach, Landkreis Bergstraße, geboren. Seine Eltern heißen Joseph und Jeanette Mayer. Wann er seine ein Jahr jüngere, in Gensingen, Kreis Bingen, geborene Frau Recha heiratet und warum er nach Darmstadt zieht, kann der Entschädigungsakte entnommen werden. Sie enthält ein Schreiben, in dem die Tochter Johanna den Lebenslauf ihres Vaters schildert – soweit es ihr möglich ist. Denn 1937 verlässt sie Deutschland. Ihr gelingt die Flucht nach New York. Der Kontakt zu den Eltern scheint danach immer schwieriger zu werden, wahrscheinlich sogar abzubrechen. Weitere Eidesstattliche Erklärungen, die sich in der Entschädigungsakte befinden, bekräftigen ihre Erinnerung, helfen Leerstellen zu füllen und so das berufliche und private Leben der Wahldarmstädter zu umreißen.

Eine Familie zieht nach Darmstadt 

Die Tochter weiß, dass Wilhelm Mayer nach seiner Lehrzeit in Straßburg bei Adler & Oppenheimer, einem der großen europäischen Konzerne der Lederindustrie, gearbeitet hat. 1915 wird er Recha, geborene Lahm, geheiratet haben. Mai 1916, kurz vor der Geburt seiner Tochter Hanna (geb. 8. Juni 1916), wird Wilhelm Mayer zum Kriegsdienst eingezogen wird. Erst dreieinhalb Jahre später, im November 1919, kehrt er aus dem Krieg zurück. Man kann nur spekulieren, ob er ein Jahr Kriegsgefangenschaft erleidet oder die Aufzeichnung der Tochter einen Tippfehler enthält und es 1918 heißen müsste. Fest steht jedenfalls, dass er nach dem Krieg noch einmal für Adler & Oppenheimer tätig ist, diesmal in Frankfurt, in einer ihrer nach dem Weltkrieg gegründeten Verkaufsniederlassungen. 1921 führt ihn sein Beruf nach Darmstadt. Er wechselt die Stelle und wird für mehrere Jahre Prokurist bei der >>>>Jonas Meyer Holzwerke GmbH. Auch privat darf sich die Familie freuen: Am 13. Januar 1923 wird Sohn Erwin Simon in Darmstadt geboren.

Darmstädter Geschäftsjahre

Nachdem Juni 1929 die Darmstädter Firma liquidiert ist, macht Wilhelm Mayer sich selbstständig. Gemeinsam mit Karl Martin gründet er eine Holzfirma mit Firmensitz in der Karlstraße 60. Martin erinnert sich nach 1945 erstaunlich wenig an die gemeinsamen Geschäftsjahre, für die im Darmstädter Stadtarchiv von 1930 bis 1937 Unterlagen und Konkurstabelle einsehbar sind.  Er erinnert sich weder an das Gründungsdatum der eigenen Firma, welches er mit den Worten „ungefähr im Jahre 1928“ angibt, noch, wann sich die Geschäftswege trennten. Ferner ist ihm das Gewerbekapital der Firma nicht mehr präsent. Wichtig ist ihm stattdessen, das Leben während der gemeinsamen Geschäftsjahre mit dem Adjektiv bescheiden zu beschreiben. Und er erklärt explizit, dass es der Konkurs bereits „1931 oder 1932“ gewesen sei – „jedenfalls vor der Machtübernahme Hitlers“. Wilhelm Mayer habe danach eine Holzagentur eröffnet, schreibt er weiter. Martins Eidesstattlicher Erklärung und vagen Erinnerungen widersprechen Aussagen anderer Zeitzeugen. So erinnert sich die Tochter daran, dass der Vater viel und hart gearbeitet habe. Wie hoch Umsatz und Einkommen der väterlichen Firma gewesen seien, könne sie allerdings nicht einschätzen. Man habe „diese Sachen“ nicht mit Kindern besprochen, erklärt sie. Doch dass die Familie zu Wohlstand kommt oder diesen festigt, lässt sich der Entschädigungsakte entnehmen. Die Familie wohnt in der heutigen Martinstraße 15, lebt „[g]ut situiert“, „als ob Geld kein Hindernis“ sei. Ferner wird in eidesstattlichen Erklärungen hervorgehoben, dass die Mayers jedes Jahr in Urlaub fahren. Die Kinder seien stets gut gekleidet, gingen auf höhere Schulen. Von Johanna existieren Zeugnisse aus der Zeit, als sie die Eleonorenschule besucht. Rosa Weinberg, eine Freundin, erinnert sich ferner noch daran, dass sie gemeinsam Sport getrieben haben, Mitglieder einer Sportbewegung gewesen seien.   

Das Leben unter staatlichen Repressionen, Ausgrenzung, Terror und Enteignung

Schon der zeitgenössische Straßenname konfrontiert die Familie tagtäglich mit der NS-Ideologie. Denn die heutige Martinstraße trägt zur NS-Zeit den Namen des Antisemiten Theodor Fritsch, dessen Verschwörungstheorien nach dem ersten Weltkrieg die Nationalsozialisten verbreiten. NS-Ideologie, -Politik und -Gesetzgebung, Boykottaktionen, Repressionen und das Verhalten der Darmstädter Bürger*innen wirken sich bald derart schädigend auf den Geschäftsumsatz aus, dass Wilhelm Mayer 1936 gezwungen ist, seine Holzagentur aufzugeben. Der Rabbiner der liberalen jüdischen Gemeinde in der Friedrichstraße stellt ihn daraufhin als seinen Assistenten an. Der ausgebildete Kaufmann hilft der Gemeinde in geschäftlichen Angelegenheiten.

Die Friedrichsstraße, in der die 1876 erbaute Liberale Synagoge stand, befindet auf dem heutigen Gelände des Klinikum Darmstadts. Ihre Überreste wurden bei Renovierungsarbeiten entdeckt und ein Erinnerungsort errichtet. (eigene Aufnahme)
Das Dokument aus den Arolsen Archives zeigt, dass am 12.11.1938 im KZ Buchenwald 96 aus Darmstadt verschleppte Juden inhaftiert wurden.
Veränderungsmeldung KZ Buchenwald – Benno Joseph 1.1.5.1./ 5278110 ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
Der Terror der Novemberpogrome

Die Novemberpogrome bedeuten auch für die Familie Mayer einen dramatischen Einschnitt. Am 10. November 1938 steht Wilhelm Mayer bereits zusammen mit vielen anderen Darmstädtern auf der Zugangsliste des KZ Buchenwalds. Er gehört zu den fast 30 000 Männern, die als sog. „Aktionsjuden“ verschleppt werden und mehreren Wochen den schweren Misshandlungen einer KZ-Haft ausgesetzt sind. >>>> Dazu siehe auch INFO: Deportationen im November 1938. Wilhelm Mayer wird am 10. Dezember entlassen.
Sein fünfzehnjähriger Sohn ist nach Ermittlungen der Jüdischen Gemeinde Darmstadt 1938 mit einem der Kindertransporte nach England geflüchtet. Seit den Novemberpogromen gelingt es jüdischen Hilfsorganisationen, diese vermehrt zu organisieren: Sie können erleichterte Einreisebedingungen für Personen unter 17 Jahren bei der britischen Regierung erwirken – unter der Voraussetzung, dass der Aufenthalt nicht dauerhaft und privat finanziert ist. Nach Darstellung der Bensheimer Schule verließ Erwin Simon jedoch schon vor den Novemberpogromen Darmstadt, erreicht bereits im Sommer die USA und wird von seiner Schwester Johanna in New York aufgenommen. 

Vor den Augen der Darmstädter Bevölkerung

In Darmstadt zwingt man seit April 1939 jüdische Familien vermehrt in sogenannte „Judenhäuser“. Das NS-Wort beinhaltet Enteignung, Ghettoisierung und Deportation. Denn jüdische Familien sind gezwungen, ihre Wohnungen, Häuser und Villen Deutschen zu überlassen. Andere, wie die  >>>>Familie Samuel Mainzer, die eine Hofreite in der Kranichsteiner Straße 35 besitzt, werden gezwungen, Einzelpersonen oder Familien aufzunehmen. So muss  >>>>Familie Efraim/Fritz Schäfer ihr Haus in der Osannstraße verlassen und wird Familie Mainzer zugewiesen. Die Hofreite wird zu einem der Darmstädter „Judenhäuser“. Aufgrund der unerträglichen Enge, unter der die Menschen zusammenleben müssen, selbst wenn es sich an sich um größere Häuser oder Wohnungen handelt, spricht man auch von „Ghettohäusern“. In Darmstadt sind sie über die Stadt verteilt. Ihre zentrale Lage und die Regionalisierung machen für jede*n die Entrechtung, gewaltsame Vertreibung und Überwachung der jüdischen Bürger*innen sichtbar. Auch Wilhelm und Recha Mayer müssen ihre Wohnung in der Martinstraße aufgeben. Man zwingt sie zum Umzug in die Bleichstraße 15, in eines der Darmstädter „Judenhäuser“

Eskalationsspirale der Gewalt 

Seit 1938 verpflichtet der sogenannte Geschlossene Arbeitseinsatz Juden, die durch NS-Gesetzgebung, Entlassung, Boykott und Arisierung mittellos geworden sind, zu Zwangsarbeiten. Im Winter 1939/1940 ist in Darmstadt das städtische Tiefbauamt zuständig für den Einsatz der Zwangsarbeiter. Einer von ihnen ist Wilhelm Mayer. Die Arbeiten, zu denen Wilhelm Mayer gezwungen wird, leistet er vor den Augen der Darmstädter*innen. Bezeugt sind: das „Aufbrechen festgefrorener Straßen“, die „Reinigung von alten Mülleimern mit einer ätzenden Flüssigkeit“, das „Umgraben eines steinigen Ackers zu einem Kartoffelacker“, „Straßenbauarbeiten an der Bergstraße und zwar nur Steineklopfen und Tragen derselben auf große Entfernungen“ sowie „Kohleausladen bei der Reichsbahn und den Kohlehändlern.“ Arbeiten, die immer wieder zu Verletzungen führen und beabsichtigen, Menschen zu demütigen und zu brechen.

Individuelle Gewalttaten durch Erpressung im System des Terrors

Dem ehemaligen Sanitäts-Obertruppführer der SA >>>>Friedrich Späth ermöglicht seine Position als städtischer Aufseher, zusätzlich Terror, Gewalt und Zwang auszuüben. Er erpresst von den Zwangsarbeitern und ihren Familien Geld und Wertgegenstände, lässt sich während der sogenannten Arbeitseinsätze aushalten, zwingt – angeblich auf Befehl der Gestapo – die Männer vor der Arbeit antisemitische Propaganda aufzusagen. Nach 1945 verneint der damalige Gestapobeamte >>>>Bruno Böhm, dass sich das Gestaporeferat IV 2B (das sogenannte „Judenreferat) an der Beaufsichtigung der Zwangsarbeiter beteiligt habe. Er verweist auf die Zuständigkeit des Tiefbauamts, also der Stadtverwaltung. 1940 nehmen die Betroffenen jedoch Späth als „williges Werkzeug der Gestapo“ wahr.

Häftlingspersonalbogen. Aus: Individuelle Dokumente aus dem KZ Buchenwald. Copy of 1.1.5.3/6597988 in conformity with the ITS Archives, Bad Arolsen
Falsche Anschuldigungen auch gegen Wilhelm Mayer

„Schutzhaft angeordnet am 18. Juli 1940“, „In Verbindung mit Bestechungsversuch verhaftet“ steht auf dem Häftlingspersonalbogen des KZ Buchenwald. Doch Wilhelm Mayer wird nicht wegen eines Bestechungsversuchs von der Gestapo in Darmstadt verhaftet. Vielmehr gehört er zu den Juden, die ab Winter 1939/40 die bereits angesprochenen harten >>>> Zwangsarbeiten leisten müssen und von Friedrich Späth, terrorisiert und erpresst werden. Er gehört zu denjenigen, die nach Beginn des Ermittlungsverfahrens gegen Späth den >>>> Schutzhaftbedingungen im Gestapotrakt des Darmstädter Gefängnis sowie dem Unrecht des >>>> Prozesses ausgesetzt sind. Dies ist die Lebenssituation, in der sich Wilhelm Mayer in Darmstadt 1940/41 befindet. Während der Recherchen lässt sich immer wieder feststellen, dass NS-Dokumente Ursachen und Folgen verbergen und verkehren. Doch selbst wenn seit 1940 vermehrt Egodokumente oder Zeitzeugen fehlen, ermöglichen die Nachkriegsprozesse gegen die Täter und Entschädigungsverfahren genügend konkrete Einblicke in den Terror, dem die jüdischen Männer, und damit auch Wilhelm Mayer, und ihre Familien ausgesetzt sind.

Hessische LandesZeitung, 29. Dezember 1940
Terror statt Aufklärung

Friedrich Späth wird Anfang Juli 1940 verhaftet. Den Untersuchungen geht eine Anzeige der jüdischen Gemeinde voraus. Konnten die jüdischen Familien, konnte Wilhelm Mayer auf einen Rest an noch funktionierender staatlicher Justiz hoffen?  Dass man damals nicht mehr „umhin kam“, gegen Späth zu ermitteln, steht nach 1945 im Bericht des Polizeipräsidenten. Und weiter: man habe die Taten als Bestechung ausgelegt, um „der Partei und den ,Alten Kämpfern´ einigermaßen Rechnung zu tragen.“  Doch damit nicht genug. Gegen viele der Zwangsarbeiter, laut Täterdokument aus dem KZ Buchenwald auch gegen Wilhelm Mayer, ermittelt der Gestapobeamte Bruno Böhm wegen „passiver bzw. aktiver Bestechung“. Als Schutzhäftling wird er am 18. Juli im Nordbau des Gefängnisses in der Rundeturmstraße, im Gestapotrakt, inhaftiert. Die NS-Propaganda spricht von Späth und Genossen und der Artikel in der Hessischen Landeszeitung verleugnet das Unrecht, das den jüdischen Männern widerfährt, schon mit der Überschrift. Sie lautet schlicht: Verfehlungen im Dienst.
Alexander Haas, nach 1945 erster Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, bezeichnet das Geschehen als einheitliche Aktion. Geständnisse seien erpresst und „fast alle Juden verhauen“ worden. Seine Aussagen konkretisieren einen Teil der Gewalt, der die Männer während des Ermittlungsverfahrens ausgesetzt sind.

Darüber hinaus zieht man sie erneut zu Zwangsarbeiten heran. „Ein Brachliegen der Arbeitskraft des Schutzhäftlings“ sei zu vermeiden, heißt es in einem Erlass des RSHA. In Darmstadt wird er umgesetzt – in der Schlosserei der Haftanstalt, bei Straßenbauarbeiten in der unteren Rheinstraße. Bezeugt ist auch, wie die Männer zusätzlich gedemütigt werden: Sie dürfen sich „nicht rasieren und die Haare schneiden“ und werden „so zum Arbeiteinsatz durch die Stadt geführt“.
Im September 1940 nimmt sich >>>> Samuel Mainzer in der Haft das Leben. Ursächlich können die Bedingungen der Schutzhaft gewesen sein oder Angst vor erneuter Verschleppung in ein Konzentrationslager. Denn wie Wilhelm Mayer war auch Samuel Mainzer im Anschluss an die Novemberpogrome für mehrere Wochen im KZ Buchenwald inhaftiert.

Eine zynische Farce: der Prozess vor dem Darmstädter Landgericht

Der Prozess vor dem Darmstädter Landgericht folgt im Dezember. Die jüdischen Angeklagten werden von Benno Joseph und Dr. Heinrich Winter aus Mainz, der den NS-Terror überlebt, vertreten. Winters Zeitzeugenschaft ermöglicht heute den Blick in den Gerichtssaal: Herr Böhm wurde als erster Zeuge vernommen. Herr Böhm ist dann jedes Mal, wenn ein Zeuge etwas zu Gunsten der Juden sagte, aufgesprungen, hat hereingeredet und die Sache von seinem Standpunkt aus plädiert.“ Doch nicht nur diese Aussage entlarvt den Prozess als Pervertierung eines Gerichtsverfahrens. Alexander Haas fragt zu Recht: [W]enn den Juden Bestechungen nachgewiesen worden wären, warum hat man den Späth verurteilt?“ Und die Ehefrau eines der Opfer bezeugt: „Obwohl mein Mann bei dem Prozess gegen Späth nicht belastet war, wurde er […], sofort nach Beendigung der Verhandlungen erneut ins Gefängnis gebracht.“

Namentliches Verzeichnis über Personen, die die Gestapo-Stelle Darmstadt am 10.4.1941 dem KZ Dachau zugewiesen hat – Wilhelm Mayer. Copy of 1.1.6.1 / 9907824. ITS Archives, Bad Arolsen

Vom Prozess zur Ermordung

21 Männer werden zu einem bis sechs Monaten juristischer Haft verurteilt. Verurteilt in einem Verfahren, für das sich zunächst kein Richter finden lässt und das schließlich von jungen Juristen geführt wird. Doch den Urteilen folgen keine juristischen Haftstrafen. Keine Haft, die auch ein Entlassungsdatum kennt. Nein, die Verurteilten werden im Anschluss an das Verfahren wieder in Schutzhaft genommen. Selbst diejenigen, die als Zeugen aussagen, verhaftet Böhm noch im Gerichtssaal erneut. Keiner der prozessbeteiligten jüdischen Männer überlebt. Sie sterben in Darmstadt und werden in Konzentrationslagern oder in den „Tötungsanstalten“ Schloss Hartheim und Bernburg ermordet. Wilhelm Mayer stirbt im März 1942. Offiziell am 25., an akutem Herzversagen, im KZ Buchenwald.

Wilhelm Mayer bleibt im Anschluss an den Prozess weitere vier Monate den Schutzhaftbedingungen des Darmstädter Gestapogefängnisses in der Rundeturmstraße ausgesetzt. Am 10. April 1941 wird er von dort „verschubt“ und gemeinsam mit Rudolf Adler, Emil Gutenstein, Nathan Landauer und Nathan Wolf am 11. April „dem KL Dachau zugeführt“.

Ein Blick auf die Täterdokument

Im KZ Dachau durchläuft er die entwürdigende Prozedur der Registratur, die allen im Schubraum des KZ Dachau widerfährt. Er muss seine persönlichen Gegenstände abgeben. Auf der Effektenkarte ist sein Eigentum notiert. Es sind lediglich ein Ring, vermutlich der Ehering, und Kleidung. Die Kleidung, die er trägt, wenig Wechselkleidung. Trotzdem: Aus der Art der Kleidung – Mantel und Rock, Weste, Pullover und Halstuch – wird ersichtlich, dass es sich um bürgerliche oder hochwertige Kleidungsstücke handelt. Danach muss er die Rasur erdulden und die Häftlingskleidung anziehen. Die gezielte Entindividualisierung symbolisiert die Häftlingsnummer 24445 auf der Schreibstubenkarte. Von seiner verantwortungsvollen Stellung als Prokurist oder als Firmeninhaber, seinem Wissen als Kaufmann, erfährt man über die Schreibstubenkarte nichts. Als Beruf wird „Schuldiener“ vermerkt. Also die Notanstellung, die er nach der wirtschaftlichen Zerschlagung seiner beruflichen Existenz erhielt. Jetzt verstärkt sie seine Kategorisierung als Schutzhäftling und als Jude im System der Konzentrationslager.
Auf der Schreibstubenkarte findet sich zudem der Eintrag „Strafblock“. Damit gehört er zu den 13 Zwangsarbeitern aus Darmstadt, die innerhalb der ersten drei Wochen nach ihrem „Zugang“ Folter ausgesetzt waren. Zu diesen auf den Schreibstubenkarten vermerkten Daten sind keine sogenannten (täglichen) „Veränderungsmeldungen“ erhalten, wie Recherchen der Mitarbeiter*innen am Max-Mannheimer-Studienzentrum ergaben. Es ist davon auszugehen, dass es sich um „,Strafblöcke‘, in die vor allem jüdische Häftlinge bestimmt wurden“, handelt. NS-Ideologie und Lagerstrukturen führen also dazu, dass Wilhelm Mayer erneut verschärfter Gewalt und Terror ausgesetzt ist. 

Schreibstubenkarte des KZ Dachau. Copy of 1.1.6.7 / 10705986 ITS Arolsen Archives. Bad Arolsen
Effektenkarte. aus: indidivuelle Dokumente des KZ Buchenwald. Copy of 1.1.5.3./ 6597991 ITS Arolsen Archives. Bad Arolsen

Die Leerstellen der Täterdokumente aus dem KZ Buchenwald

Am 5. Juli 1941 wird Wilhelm Mayer vom KZ Dachau ins KZ Buchenwald „überführt“. Dort wird er einem sogenannten „Arbeitskommando“ unterstellt und muss körperliche Schwerstarbeit leisten. Auf den Täterdokumenten finden sich weitere Informationen und Lebenszeichen, die jedoch wenig Rückschlüsse zulassen: recht regelmäßig lässt er sich Geld, meistens 15 RM, auszahlen. Im Herbst ist es ihm möglich, zweimal aus der Effektenkammer Kleidungsstücke zu entnehmen. Am 24. Januar 1942 wird er als arbeitstauglich bewertet, denn sein Name taucht auf der „Zusammenstellung der im K.L. Buchenwald befindlichen arbeits- und einsatzfähigen jüdischen Häftlinge“ auf. Am 6. März lässt er sich wieder 15 RM auszahlen. Dieser Eintrag auf der Kontokarte wird zu seinem letzten Lebenszeichen. Die danach folgenden Dokumentationen verweisen auf seine Ermordung: Tod und Todesdatum werden auf den Karteikarten vermerkt. In dem Rapportbericht der Abteilung III des Schutzhaftlagers vom 25. März 1942 an die Kommandantur wird als Todesursache „akut[e] Herzschwäche“ notiert. Doch stirbt er wirklich daran und damit an der „Vernichtung durch Arbeit“ oder wird er wie andere, deren offizielle Todesdaten und -ursachen nachweislich fingiert sind, Opfer der >>>> Aktion 14f13 – sprich: einige Tage zuvor in der Tötungsanstalt Bernburg ermordet? Da sein Name auf enthaltenen Überführungslisten noch nicht gefunden ist, bleiben zwar die genauen Todesumstände unklar, nicht aber dass es sich um Ermordung und Genozid handelt.

1. Seite der Kontokarte. aus: Indidivuelle Dokumente des KZ Buchenwald. Copy of 1.1.5.3./ 6597994 ITS Arolsen Archives. Bad Arolsen.

Spuren vor Ort der Wahl-Darmstädter Familie Mayer  

Als Recha Mayer die Mitteilung vom Tod ihres Mannes und eine Urne erhält, lebt sie noch in Darmstadt, im Ghettohaus in der Bleichstraße 15.  Auch hat ihr laut Effektenkarte die Kripo Darmstadt den „Nachlass“ auszuhändigen. Am 7. April müssten also etwas Kleidung, ein Ring und 260 RM – der Betrag, der auf der Kontokarte verzeichnet ist – nach Darmstadt geschickt worden sein. Doch das Darmstädter Amtsgericht notiert: „Der Nachlass des Verstorbenen besteht angeblich nur in Kleidern und Wäsche.“ Die Urne wird auf dem Darmstädter Friedhof, Grab 396, beigesetzt, so dass es heute eine Grabstelle gibt, die an Wilhelm Mayer erinnert. Recha Mayer wird am 12. Februar 1943 ins sogenannte „Altersghetto Theresienstadt“ und weiter ins Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Durch die im April 2022 verlegten Stolpersteine gibt es nun auch einen sichtbaren Ort zur Erinnerung an sie und ihre Familie. An ihrem letzten selbstgewählten Wohnort in Darmstadt, in der Martinstraße 15.

 


Lektürehinweise und Quellen (u.a.)

https://arolsen-archives.org – ITS Digital Archive, Arolsen Archives. Digitalisate zu Wilhelm Mayer.
HHStAW 518/ 25069 (Entschädigungsverfahren Wilhelm und Recha Mayer)
HHStAW 520 / 05 29045 (Spruchkammerverfahren gegen Bruno Böhm)
HStAD H13 DA 1071 (Schwurgerichtsverfahren gegen Bruno Böhm)
HHStAW 520 / 05 14522 (Spruchkammerverfahren gegen Friedrich Späth)

Battenberg, F./ Engels, P./ Lange, T. (Hgg): Juden als Darmstädter Bürger“. Wiesbaden 2019.
Reuss, J./Hoppe, D. (Hgg): Stolpersteine in Darmstadt. Bd 1 und 2 Darmstadt 2013 und 2022

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