„Am 10.11.38, nachdem vormittags unser Geschäft zerschlagen wurde, wurden wir beiden Brüder verhaftet und nach dem KZ Buchenwald abtransportiert. Mein Bruder Ludwig kam 3 Tage früher zurück als ich. Er war 3 ½ Wochen und ich 4 Wochen in Haft.“
Siegfried Kahn
Wirtschaftliche Vernichtung
Ludwig Kahn war Darmstädter Bürger, geboren am 17. Mai 1892 in Worfelden.
In Darmstadt wohnte er mit seiner Ehefrau Selma und seiner Tochter Thea in der Heinrichstraße 169. Mit seinem Bruder Simon war Ludwig Kahn Inhaber der Firma S. & L. Kahn. Die Sattler- und Polsterwarenhandlung befand sich in der Elisabethenstraße. Nachdem Simon Kahn 1931 oder 1932 starb, führte Ludwig Kahn das Geschäft mit dessen Frau Lilly Kahn weiter, erinnert sich Jean Kehrer, ein angestellter Kaufmann und Handelsreisender. Bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten lief das Geschäft sehr gut. Danach wurde es für die Familie Kahn immer schwieriger.
„Am 1. 7. 37 wurde Herrn Ludwig Kahn die Legitimationskarte entzogen, und ich übernahm von diesem Zeitpunkt an den Außendienst.“ Jean (Hans) Kehrer
Damit unterstützte Jean Kehrer, der von sich selbst sagte, dass er nie Mitglied der NSDAP werden wollte und dafür auch Schwierigkeiten in Kauf nahm, aktiv die Familie. Er schied nach eigenen Angaben offiziell am 31. Dezember 1938 aus der Firma aus – und damit am letzten Tag des Geschäftsjahres, bevor jüdische Geschäfte generell verboten wurden. Er gibt aber an anderer Stelle an, noch bis Ende März 1939 für die Firma/ Familie tätig gewesen zu sein. Dass das Geschäftsverbot für Juden erfolgte, war seit November 1938 bekannt:
„[…] Der Beauftrage für den Vierjahresplan, Generalfeldmarschall Göring erließ eine Verordnung, der zufolge Juden vom 1. Januar 1939 der Betrieb von Einzelhandelsverkaufsstellen, Versandgeschäften oder Bestellkontoren sowie der selbstständige Betrieb des Handwerks untersagt wird.“ So die Hessische Landeszeitung am 13. November 1938.
Damit belegt Jean Kehrers Handeln seine Loyalität zu der Familie Kahn und seine Distanz zum NS-Staat. Dass Zeitzeugenberichte überhaupt vorhanden sind, die Einblicke in das Novemberpogrom und das Geschäft der Familie Kahn ermöglichen, ist dem Entschädigungsantrag der überlebenden Angehörigen zu verdanken. So schildert Kehrer, wie in der Nacht vom 10. auf den 11. November 1938 das Geschäft der Familie Kahn von „vermutlichen SS-Leuten in Zivil […] total demoliert“ wurden.
Die Verwüstung der Geschäftsräume hat er selbst miterlebt: „Es war gegen 8.00 Uhr als 4 Männer die Geschäftsräume betreten haben, die Geschäftsbücher verlangten und mitnahmen. Anschließend, es lag nur ein geringer Zeitraum dazwischen, erschienen wiederum etwa 20 Männer in Zivil, die mit Hämmer [sic!], Beilen usw. bewaffnet sämtliche Waren- und Einrichtungsgegenstände vernichteten. U.a. wurden auch die Türen des Miethauses demoliert.“ Den entstandenen Zerstörungsschaden allein der Geschäftsräume schätzt Jean Kehrer auf umgerechnet 20.300 DM. Dazu kämen noch die Zerstörungsschäden der Wohnung und der Polsterwerkstatt in der Bleichstraße, zu denen er aber keine Angaben machen könne.
Inhaftierung und Deportationen treffen die Familie Kahn
„[In Dachau] wurde mein Bruder zu Tode gemartert und ist lt. Todesurkunde am 30.9.42 als tot erklärt worden.“
Siegfried Kahn
Es entstand nicht nur ein wirtschaftlich ein gravierender Schaden: Ludwig Kahn und sein Bruder Siegfried wurden nach dem Novemberpogrom verhaftet und mehrere Wochen im KZ Buchenwald inhaftiert. Als Gründe für die Inhaftierung wurde auf der Inhaftierungsbescheinigung des Roten Kreuzes „Aktions-Jude“ neben „Schutzhaft“, „Polit“ (politisch) und „Jude“ angegeben. Die NS-Bezeichnung „Aktions-Jude“ steht für die zahlreichen Verschleppungen in Konzentrationslager, die den Novemberpogromen folgen.
INFO: Deportationen im November 1938
Ab den Morgenstunden des 10. November 1938 kam es zu Massenverhaftungen, die von Heinrich Himmler, Chef der Polizei, und Reinhard Heydrich, Chef der deutschen Sicherheitspolizei, angeordnet wurden. Grundlage war die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“. Nach Anweisungen sollten 20.000-30.000 möglichst wohlhabende jüdische Männer festgenommen werden. Die SA- und SS-Trupps gingen sehr brutal vor und nahmen entgegen der Anweisung auch Frauen, alte Menschen und Kinder fest, die nach kurzer Zeit wieder freigelassen wurden.
Informationen über die Massenverhaftungen verbreiteten sich trotz des Verbotes der jüdischen Presse sehr schnell, sodass sich viele Männer in den Großstädten versteckten. Trotzdem wurden über einen Zeitraum von sechs Tagen über 30.000 Juden inhaftiert und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt, die deshalb sehr überfüllt waren. Damit waren etwa 20% der damals noch in Deutschland lebenden männlichen jüdischen Bevölkerung inhaftiert.
In den Lagern waren die Juden psychischen und physischem Terror ausgesetzt. Aber nicht nur die Inhaftierten, sondern auch ihre Familien litten, da sie teilweise über einen Zeitraum von mehreren Wochen in Ungewissheit leben mussten.
gekürzt übernommen bzw. zusammengefasst aus: https://www.fritz-bauer-institut.de/fileadmin/editorial/download/publikationen/PM-03_Novemberpogrome-1938.pdf
Zwangsarbeit in Darmstadt
Siegfried Kahn wanderte nach der Entlassung aus dem KZ Buchenwald nach Amerika aus. Ludwig Kahn kümmerte sich um die Überreste seiner beruflichen Existenz. Er räumte das Lager und verkaufte den Restbestand. Auch er wollte nach Amerika auswandern und wollte deshalb das Polsterhandwerk in der Fa. Allweier in Frankfurt erlernen, erinnert sich Jean Kehrer. Allerdings wurde er von den Nationalsozialisten dienstverpflichtet und musste für die Firma Heil Papierfabrik in Darmstadt Eberstadt arbeiten.
Im Winter 1939/40 wird er wie andere zur Zwangsarbeit vom städtischen Tiefbauamt in Darmstadt zu Straßenarbeiten herangezogen (siehe „Zwangsarbeit“). Friedrich Späth, der Aufseher dieses Kommandos, erpresste Zwangsarbeiter, bis man ihn anzeigte, erinnert sich Jean Kehrer. Betroffene, so auch Ludwig Kahn, wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gegen Späth ebenfalls verhaftet und am 23. Dezember 1940 verurteilt. Ludwig Kahn selbst erhielt eine Haftstrafe von zwei Monaten und wurde am 2. Mai 1941 in das KZ Dachau von Darmstadt aus verschleppt. Täterdokumente aus dem KZ Buchenwald schreiben Ludwig Kahn zu, den Aufseher bestochen zu haben und verdecken damit die tatsächlich erfolgten Straftaten und Erpressungshandlungen Späths.
vertiefend zu >>>>Zwangsarbeit und >>>>Georg-Friedrich-Spaeth-Taeter/
Deportationen
In der Entschädigungsakte findet sich die bereits erwähnte Inhaftierungsbescheinigung. Diesem Nachkriegsdokument sind die Zeiträume der Schutzhaft, die Ludwig Kahn trafen, zu entnehmen: Er wurde am 11. November 1938 zum ersten Mal inhaftiert, liest man. Nach dieser ersten Verhaftung wurde er am 1. Dezember 1938 aus dem KZ Buchenwald entlassen. Sein zweiter Inhaftierungs- und Deportationsprozess beginnt am 19. Juli 1940 in Darmstadt, am 2. Mai 1941 wird er ins KZ Dachau, am 5. Juli 1941 ins KZ Buchenwald und am 6./7. Juli 1942 wieder zurück ins KZ Dachau deportiert.
Der Blick in die Täterdokumente aus den Konzentrationslagern sowie in die Entschädigungsakte bestätigt und erweitert diese Informationen zur Deportation und Ermordung Ludwig Kahns. Laut der Bescheinigung befand sich sein letzter Wohnsitz in der Hoffmannstraße 12 oder der Kaaler(Kallert?)straße 21. Hier wird der Schreibfehler auf der Schreibstubenkarte des KZ Dachau übernommen. Auch wird nicht deutlich, dass in der, richtig geschrieben, Kahlertstraße nicht sein letzter selbstgewählter Wohnort war, sondern mit dem erzwungenen Umzug aus der Heinrichstraße sein Deportationsprozess beginnt.
Ermordung
Am 30. September 1942 soll Ludwig Kahn um 8:15 Uhr an Herz- und Kreislaufproblemen gestorben sein. Der Rapportbericht des Lagerarztes (SS-Obersturmführer der Reserve) scheint detailliert:
„Der Schutzhäftling-Jude Nr. 30993 Kahn Ludwig […]
K. wurde am 30.9.42 wegen Darmkatarrh in dem Häftlingskrankenbau aufgenommen. Der Zustand des Pat. verschlechterte sich rasch. Bald nach seiner Einlieferung wird er bewusstlos. Es tritt Herz- und Kreislaufschwäche ein, die um 8.15 Uhr zum Tode führt.
Eintritt des Todes am 30. September 1942, 8,15Uhr.
Todesursache: Versagen von Herz und Kreislauf bei Darmkatarrh“
Und doch enthält er keine Information zu den tödlichen Umständen im „Häftlingskrankenbau“ und den tatsächlichen Ursachen, die zu Ludwig Kahns Tod führten: der Terror, die Gewalt und Ausbeutung während der KZ-Haft.
Dass Ludwig Kahn gestorben ist, erfährt Jean Kehrer verspätet. Ludwig Kahns Ehefrau wurde ebenfalls verschleppt: am 20.September 1942. Und von der gemeinsamen Tochter, die 1938 nach Holland auswanderte, erhält Jean Kehrer 1940 oder 1941 die letzte Nachricht.
Abbildungen:
Veränderungsmeldung KZ Buchenwald – Benno Joseph 1.1.5.1./ 5278110 ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
Individuelle Dokumente (KZ Buchenwald) 1.1.5.3./6217132 ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
Individuelle Dokumente (KZ Buchenwald) 1.1.5.3./6217136 ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
Schreibstubenkarte KZ Dachau Kahn, Ludwig 1.1.6.7./ 10672256 ITS Digital Archive. Arolsen Archives.
Zitate entnommen
Entschädigungsakte HHStAW 518/ 16324
Individuellen Dokumenten KZ Dachau.1.1.6.2./10119571 ITS Digital Archive. Arolsen Archives.
Quellen [u.a.]
Die von den Arolsen Archives zur Verfügung gestellten Dokumente.
Liste J Darmstadt, Staatsanwaltschaft […] 2.1.1.1./70309733 ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
HStAD G 24 1278
HHStAW 518/ 16324
Literatur:
Knellessen, Dagi: Novemberpogrom 1938. Was Unfassbar schien, ist Wirklichkeit. Pädagogisches Zentrum des Fritz-Bauer-Institutes. Pädagogische Materialien 03.
Bearbeitet von Ann-Kathrin Gaffal und Nelly Kaufmann
Ludwig Kahn
Weiterlesen …
Samuel Mainzer
Weiterlesen …
So berichtete die Hessische Landeszeitung 1938
Weiterlesen …
So sagten ehemalige SA-Männer nach 1945 aus
Weiterlesen …
Wilhelm Mayer
Weiterlesen …