Darmstädter Ghettohäuser

In Darmstadt zwingt man seit April 1939 jüdische Familien vermehrt in sogenannte „Judenhäuser“. Das NS-Wort beinhaltet Enteignung, Ghettoisierung und damit eine erste Form von Deportation.

Viele Familien sind gezwungen, ihre Wohnungen, Häuser und Villen Deutschen zu überlassen und zusammenzuziehen. Andere, wie die >>>> Familie Samuel Mainzer, die eine Hofreite in der Kranichsteiner Straße 35 besitzt, werden gezwungen, Einzelpersonen oder Familien aufzunehmen. Die Hofreite wird zu einem der Darmstädter „Judenhäuser“. Aufgrund der unerträglichen Enge, unter der die Menschen zusammenleben müssen, selbst wenn es sich an sich um größere Häuser oder Wohnungen handelt, spricht man auch von „Ghettohäusern“. In Darmstadt sind sie über die Stadt verteilt. Ihre zentrale Lage und die Regionalisierung machen für jede*n die Entrechtung, gewaltsame Vertreibung und Überwachung der jüdischen Bürger*innen sichtbar.  

Vor den Augen der Darmstädter Bevölkerung – Ein Stadt enteignet ihre Bürger*innen

Wie erwähnt, muss Samuel Mainzer und seine Familie Wohnraum zur Verfügung stellen. Ihnen wird  >>>> Familie Schäfer zugewiesen, die ihr Haus in der Osannstraße verlassen muss. Anderen zu Zwangsarbeit Verpflichteten geht es ebenso. Auch das Eigenheim von Lina Adler, >>>> Rudolf Adlers Schwester, in der Mauerstraße 20 wird zu einem Ghettohaus.


Als Mieter im eigenen Haus

In der Schlossgasse 8 führt Maximilian Grünfeld das vom Vater gegründete Familiengeschäft, eine Möbel- und Altwarenhandlung, weiter. 1935 zwingt die NS-Gesetzgebung zuerst seinen Bruder Philemon Grünfeld aus der beruflichen Existenz. Der Redakteur zieht zurück nach Darmstadt, zu seinem Bruder, in sein Elternhaus. Sommer 1938 muss Maximilian Grünfeld sein Geschäft verkaufen, Grundstück und Haus werden arisiert. Er wird zum Mieter seines Eigentums.
Karl Friedrich (oder Siegfried) Simon ergeht es ebenso. Ihm gehört eine renommierte Druckerei in der Grafenstraße 15, in direkter Nähe der orthodoxen Synagoge. Im Juli 1938 werden Betrieb und Anwesen arisiert. Deutlich unter Wert gehen Privaträume und Papierwarenhandlung im Vorderhaus und das Hinterhaus samt Druckerei an den Obermeister der Buchbinderinnung, Ernst Rehbein, über. Dem Ehepaar Simon lässt man nur wenig Geld und Wohnraum. Auf engem Raum leben sie gemeinsam im Vorderhaus der Grafenstraße 15 bis zu Karl Friedrich Simons Verhaftung durch die Staatspolizei Darmstadt im Juli 1940.

Zerstörung der Orthodoxen Synagoge durch die Novemberpogrome, Bleichstraße Darmstadt. Ausschnitt aus Digitalisat HHStAW 3008/1, 13965.

Schreibstubenkarte des KZ Dachau
Arolsen Archives online collections
https://collections.arolsen-archives.org/de/document/10661246

Bruno Hess lebt seit 1927 in der Annastraße 22. Auch dieses große Anwesen, das ihm zum Teil gehört, wird zu einem der Darmstädter Ghettohäuser. Während seinen Eltern und Geschwistern die Flucht gelingt, muss Bruno Hess in Darmstadt Zwangsarbeiten leisten, wird in Schutzhaft genommen und Ende April 1941 ins KZ Dachau deportiert. Er überlebt nur wenige Tage den Terror und die Gewalt der SS im Konzentrationslager: Die Schreibstubenkarte verzeichnet seinen Tod auf den 4. Mai nachts. Laut Sterbeurkunde soll er am 3. Mai um 21 Uhr auf der Flucht erschossen worden sein. 

Arolsen Archives online collections
DocID: 10092262 https://collections.arolsen-archives.org/de/document/10092262


Pädagogstraße 2
Schreibstubenkarte KZ Dachau. Aus Pädagogstraße 2 wurde Peter Hochstr. 2
Nassauer, Samuel 1.1.6.7./ 10714563 ITS Digital Archive. Arolsen Archives. 
Brief der Tochter Klara an ihren Vater ins KZ Buchenwald
Copy of 1.1.5.3 / 6691108 ITS Digital Archive, Arolsen Archives

Samuel (Sally) Nassauer kauft gemeinsam mit seiner Frau Klara 1918/19 für 90 000 RM die Hofreite in der Pädagogstraße 2 und führt dort eine hochwertige Metzgerei. Die Familie wohnt im ersten Stock und nutzt Wohn- und Küchenräume im Erdgeschoss. Die anderen Wohnungen sind an Darmstädter vermietet. Nach 1945 berichten sie, wie Nassauers Wohnung und Betrieb den Zerstörungs- und Plünderungsexzessen der Novemberpogrome zum Opfer fallen. Die Verordnung vom 23. November 1938 „zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ verhindert, dass Sally Nassauer sein Geschäft wieder aufbauen kann. April 1939 muss das Ehepaar auf die bereits schuldenfreie Hofreite eine Sicherungshypothek eintragen lassen. Eine ehemalige Mieterin erinnert sich noch daran, dass die Familie selbst Wohnraum teilen muss und Zimmer der eigenen Wohnung untervermietet. Sally Nassauer bleibt bis zu seiner Verhaftung in seinem Eigentum wohnen. Dass seine Adresse auf KZ-Dokumenten anders lautet – z.B. Peter Hochstraße 2 auf der Schreibstubenkarte des KZ Dachaus – ist aller Wahrscheinlichkeit nach Hörfehlern geschuldet. Auch Klara Nassauer und Tochter Ilse leben bis zu ihren Deportationen in der Pädagogstraße 2. Danach lässt der NS-Staat Wohnung und Geschäftsräume räumen sowie Vermögen und Besitz einziehen. Im August 1943 wird das Ehepaar als Eigentümer aus dem Grundbuch gelöscht und das Deutsche Reich (Reichsfinanzverwaltung) eingetragen. Sally Nassauer ist zu dem Zeitpunkt schon über ein Jahr tot. Seine Tochter Ilse wird am 25. März 1942 von Darmstadt nach Piasky in die Ermordung deportiert. Fünf Tage zuvor schreibt sie ihrem Vater. Sie verabschiedet sich zum „Arbeitseinsatz“, bittet ihn, „stark“ und „tapfer“ zu bleiben und spricht die Hoffnung aus, dass sie sich „gesund“ wiedersehen. Dies sei ihr ganzer „Trost“. Seine Frau ergänzt, dass sie die Tochter gerne begleitet hätte. Der Brief erreicht Sally Nassauer nicht mehr. Bereits am 12. März wird er nach Bernburg überführt und ermordet. Von seiner Familie überlebt nur sein Sohn Manfred. Er flüchtet 1938 in die USA, erfährt vom Schicksal der Familie in Darmstadt durch Telegramme. Mitte September schreibt ihm seine Mutter den, wie sie es selbst formuliert, „[v]orläufig letzte[n] Brief“, da sie „verreise“. „[H]offentlich treffen wir Ilse. Bin gesund und habe Hoffnung dich auch wiederzusehen. Bleibe gesund, innig umarmt u. küsst dich Mutter“, lauten ihre Worte an ihn. Am 30. September 1942 wird sie deportiert, vermutlich nach Treblinka.


Siegfried Gans wohnt und arbeitet mit Frau Anna Marie und Tochter Ellen in der Rheinstraße 47. Die Familie gilt als „privilegiert“ aufgrund des evangelischen Glaubens der Ehefrau und wird nicht zu einem Umzug in ein Ghettohaus gezwungen. Aber der Handwerkbetrieb erleidet spätestens ab 1935 extreme wirtschaftliche Einbußen. Ende 1938 muss der Kupferschmiedemeister und Installateur, der einst vier Gesellen und zwei oder drei Lehrlinge beschäftigen konnte, sein Geschäft schließen, Inventar und Lagerbestand zu „Schleuderpreisen“ veräußern und kurze Zeit später Zwangsarbeiten leisten. Während der Schutzhaft wird er ab Herbst 1940 in der Schlosserei der Darmstädter Haftanstalt zu Arbeiten verpflichtet. Vor der Deportation und Ermordung ist auch er nicht geschützt.


Weitere Prozesse innerstädter Vertreibung und Ghettoisierung

Für die meisten Jüd*innen ist die innerstädtische Vertreibung die erste Stufe der Deportation: Sie müssen ihren selbstgewählten Wohn- und oftmals zugleich auch Arbeitsort, verlassen.

Hermann Simon und seine Schwester Jenny leben zentral und in direkter Nachbarschaft der Familie Gans, bevor man sie zum Umzug in die Alicenstraße 15 zwingt. Das im Johannesviertel gelegene Haus deklariert man zu einem „Judenhaus“. Knapp Zwanzig Jahre, zwischen September 1920 und 1939, wohnte das Geschwisterpaar zuvor in der Rheinstraße 53.

In der Ludwigstraße 3 lebt bis zu seiner Haft und Deportation Max Marx mit seiner Frau Walli und seiner Tochter Hanni Inge. Unter dieser Adresse ist vor seiner Verhaftung auch Theodor David gemeldet. Das Familiengeschäft, eine Eisenwarenhandlung, die er als ältester Sohn einmal weiterführen soll, existiert nicht mehr: Der NS-Terror drängte das renommierte Unternehmen aus dem Darmstädter Stadtbild. Es verlor bis 1937/38 so sehr an Umsatz, dass sich Nathan David gezwungen sah, das von ihm und seinem Bruder Emil gegründete Unternehmen aufzulösen. Sein Sohn, Theodor David, stirbt in Darmstadt – in Schutzhaft – offiziell an einer Lungenentzündung/ Grippe. Nach 1945 kommentiert die frühere Haushälterin der Familie diese Darstellung mit den Worten, „was ich für mein Teil aber nicht glaube“, und beurteilt damit seinen Tod als Mord.  


Ferdinand Freudenberger erhält sein Geschäft, die einzige jüdische Bäckerei Darmstadts, bis es in den Novemberpogromen gewaltsam zerschlagen wird und er kurz darauf schließen muss. Noch 1937 konnte er mit seiner größer gewordenen Familie umziehen, in die Roßdörfer Straße 59. Nach den Pogromen bleibt die Familie noch ein gutes Jahr dort wohnen, bevor auch sie wie Leopold Mayer in die Grafenstraße 13 gezwungen wird.

In der Hindenburgstraße 11 lebt seit 1927 Familie May in einer geräumigen Vier- oder Fünf-Zimmerwohnung. Das Dachgeschoss ihrer Villa vermieten sie spätestens ab 1936. Zu dieser Zeit leidet ihr in Darmstadt zuvor führendes und florierendes Unternehmen auf dem Gebiet des Altstoff- und Rohprodukthandels, die Firma Lippmann-May OHG, schon stark unter Boykotten. Zwei Jahre später kommen die Geschäfte gänzlich zum Erliegen. „[N]icht nur geringfügig“ seien die Schädigungen gewesen, heißt es 1967 im Festsetzungsbescheid zur Entschädigung des wirtschaftlichen Schadens. Eine Sprache, die noch in der Nachkriegszeit das Vermögen des einst wohlhabenden Darmstädter Ehepaars verklausuliert. Neben der Vernichtung der beruflichen Existenz wird das Ehepaar May gezwungen, Wertgegenstände abzugeben und seine Villa zu verlassen, um in die Frankfurter Straße 52 zu ziehen. Das, was an Besitz geblieben ist, wird nach der Deportation der Ehefrau nach Piasky beschlagnahmt. Die Töchter überleben aufgrund ihrer Flucht in die USA bzw. England.


Die Ghettohäuser in der Sudetengaustraße (heute Wilhelm-Leuschner-Straße)

Siegmund Westerfeld muss Stockstadt am Rhein, seinen Geburtsort, verlassen und mit seiner Frau Frieda nach Darmstadt in das Ghettohaus in der Sudetengaustraße 40 ziehen. Die Gemeinde Stockstadt datiert den Umzug auf den 20. Dezember 1940. Zu dieser Zeit ist Siegmund Westerfeld jedoch schon in Schutzhaft. Er wurde im Juli 1940 gemeinsam mit anderen Zwangsarbeitern festgenommen. Offen bleibt, wie lange er in dem Ghettohaus wohnt. Auch für Gustav Oppenheimer und Nathan Landauer ist das Ghettohaus in der Sudetengaustraße 40 als Adresse auf den Schreibstubenkarten des KZ Dachau notiert. Ebenfalls gemeinsam ist, dass sie Folterungen im Strafblock erleiden, wie der jeweilige Eintrag zeigt. Nathan Landauer wird außerdem bereits nach zwei Tagen KZ-Haft gezwungen zu unterschreiben, dass für ihn „verschärfte Haftmaßnahmen“ gelten. Er ist bereits weiter ins KZ Buchenwald verschleppt, als Gustav Oppenheimer am 16. August 1941 der Registratur im KZ-Dachau ausgeliefert wird. In Darmstadt lebt Nathan Landauer zuvor mit Frau und Kindern – wie auch Jakob Sobernheim – in der Kasinostraße 26, in direkter Nachbarschaft zur Familie Bachrach. Friedrich Bachrach ist in Schutzhaft oder bereits deportiert, als seine Frau Adele und sein Sohn Walter Bachrach gezwungen werden, in ein weiteres Ghettohaus in der Sudetengaustraße, in die Nr. 2, zu ziehen. Auf Wunsch Angehöriger findet man die für sie verlegten Stolpersteine in der heutigen Wilhelm-Leuschner-Straße 47, ihrem Wohnort vor 1933.

Wenn Adressen von Eheleuten sich unterscheiden…

Das seit 1933 verheiratete Ehepaar Gretel und >>>> Josef Mayer trennt selbst der Umzug von der Liebigstraße in das Ghettohaus Sudetengaustraße 23 nicht. Auf der Dachauer Schreibstubenkarte wie auch auf Täterdokumenten aus dem KZ Buchenwald wird es zunächst als Anschrift der Ehefrau notiert. Doch irgendwann nach der Deportation ihres Mannes muss Gretel Mayer das Ghettohaus verlassen haben. Denn der Eintrag wird verändert, Sudetengaustraße gestrichen und durch Bismarckstraße 39 ersetzt. Nach dem Krieg wird Gretel Mayer eine wichtige Zeugin zur Aufklärung und Benennung von NS-Unrecht und Täterschaften.

Copy of 1.1.5.3 / 6597555. ITS Archives, Bad Arolsen
Individuelle Dokumente KZ Buchenwald – Josef Mayer


Am Rand der Innenstadt: Heinrichstraße 3 und Bleichstraße 15

Emil Gutenstein ist bereits deportiert, bevor seine zweite Frau Gertrud aus der Ernst-Ludwigstraße 15 in das Ghettohaus Heinrichstraße 3 vertrieben wird. Auch Rudolf Steinberg lebt laut Täterdokumenten aus den KZ Buchenwald und Dachau in der Ernst-Ludwigstraße, ist also einer seiner Nachbarn. Wie bei Emil Gutenstein gibt die RVDJ-Kartei die zentral gelegene Straße als seine Adresse an. Verkaufen muss die Familie Steinberg ihr innerstädtisches Eigentum jedoch bereits im Sommer 1939 nach längeren Verhandlungen – deutlich unter Wert. Während Rudolf Steinberg inhaftiert ist, wird seine Familie aus ihrem Zuhause gedrängt und wie >>>> Wilhelm und Recha Mayer zum Einzug in die Bleichstraße 15 gezwungen.

Ein weiteres Ghettohaus im Johannesviertel – Die Kahlertstraße 21

Die Familien >>>> Jakob Eckstein, >>>> Ludwig Kahn und >>>> Gustav Löb sowie der ledige Berthold Ehrmann werden aus ihren Wohnungen oder Häusern vertrieben und in die Kahlertstraße 21 gezwungen.

Zuvor wohnt und arbeitet die Familie Jakob Eckstein zentral in der Altstadt in der Großen Ochsengasse. Auf dem heutigen Hiroshima-Nagasaki-Platz liegen Stolpersteine, wo einst ihr Zuhause war. Familie Ludwig Kahn verlässt Haus und Lebensraum in der Heinrichstraße 168.

Schreibstubenkarte KZ Dachau Eckstein, Jakob 1.1.6.7./ 10636684ITS Digital Archive. Arolsen Archives.
DocID: 12652177 (BERTHOLD EHRMANN)
Collection.arolsen-archives.org/de
Schreibstubenkarte KZ Dachau Kahn, Ludwig 1.1.6.7./ 10672256 ITS Digital Archive. Arolsen Archives.

Berthold Ehrmann lebt in der Heidelberger Straße 25, bevor man ihn zum Umzug zwingt. Er wird bereits vor dem Prozess deportiert und ermordet. Verstorben am 15. November 1940 um 15 Uhr an „Versagen von Herz und Kreislauf“, so der Eintrag in der Sterbeurkunde.

Schreibstubenkarte KZ Dachau Löb, Gustav 1.1.6.7./ 10697770 ITS Digital Archive. Arolsen Archives.


Flucht nach Darmstadt – Vertreibungen aus umliegenden Vororten und Kleinstädten

Vertrieben aus Griesheim

Gustav Löb und seine Frau Martha ziehen aus Griesheim zu. Die „[u]nerträgliche[n] Verhältnisse“ in der Kleinstadt nahe Darmstadt nehmen ihm seinen Wohn- und Arbeitsort in der Hintergasse. Die politisch engagierte Familie ist der NS-Verfolgung seit 1933 verschärft ausgesetzt. Sohn Ludwig, in der Arbeiter-Sport-Bewegung aktiv, flüchtet bereits 1933. Er geht nach Frankreich ins Exil, emigriert später nach Palästina. Der Vater, Leiter der Griesheimer Gruppe des Reichsbanners, leidet in Griesheim besonders unter dem NS-Terror. Nach Kenntnis des Sohnes soll er vom 15. Mai bis 18. Dezember 1933 ins Gefängnis in Groß-Gerau verschleppt worden sein und danach bis Februar 1935 in Groß-Gerau Zwangsarbeit geleistet haben. Diese sei selbst im Winter barfuß zu verrichten gewesen. Zeugen, die der Sohn für diese Exzesse nennt, geben an, keine Kenntnis von diesen frühen Zwangsarbeiten zu haben. Fest steht jedoch, dass die Verhältnisse in Griesheim Gustav und Martha Löb im Dezember 1935 zum Umzug nach Darmstadt zwingen. Bevor auch sie im Ghettohaus in der Kahlertstraße 21 einquartiert werden, wohnen sie in der Liebigstraße 30.

Ebenfalls in Griesheim – in der Pfungstädter Straße 19 – liegen die Stolpersteine für Leopold Mayer und seine Mutter Johanna. „Unfreiwillig verzogen// 1939 Darmstadt“ liest man auf ihnen. Bis zu ihren Deportationen sind sie in dem Darmstädter Ghettohaus in der Grafenstraße 13 gemeldet.


Existenzen in Groß-Zimmern durch Boykotte und Terror zerstört, in Pogromen zerschlagen 

Griesheim ist nicht der einzige Ort, aus dem Jüd*innen nach Darmstadt getrieben werden: Heinrich Reiss führt in Groß-Zimmern einen gutgehenden Viehhandel- und Schlachtbetrieb. NS-Gesetzgebung und Repressionen wirken sich geschäftsschädigend aus, so dass sich ein aktiver Betrieb nur bis 1936/37 definitiv nachweisen lässt. Spätestens 1938 wird der Betrieb komplett – also nun auch räumlich – zerschlagen. Er erliegt der Gewalt der Novemberpogrome. Das Ehepaar Reiss flüchtet mit sechs Kindern nach Darmstadt. Doch die Hoffnung auf friedlichere Verhältnisse erfüllt sich nicht. Nur kurz können sie in der Rheinstraße 26 wohnen. Dann drängt man sie in das Ghettohaus in der Kasinostraße 10.

Ebenfalls aus Groß-Zimmern stammt Ludwig Ranis. Er flüchtet mit seiner Frau Alice und Tochter Margrit vor antisemitischer Gewalt nach Darmstadt: 1935 schlagen zwei Täter in der Nacht vom 15. auf den 16. November drei Fensterscheiben im ersten Stock seines Elternhauses in der Kreuzstraße 2 ein. Die Zerstörung trifft das Zimmer seiner Mutter. Der Anschlag bleibt nicht der einzige in der Nacht. Auch elf Fenster der Synagoge werden zerschlagen. Doch anders als der Gemeindevorsteller stellt Ludwig Ranis keinen „Strafantrag wegen Sachbeschädigung“, da sein Elternhaus zu dem Zeitpunkt der „Volksbank Groß-Zimmern gehört“. Mehrere Anwohner haben das Geschehen mitbekommen und werden als Zeugen vernommen. Doch ihre Aussagen geben keine sachdienlichen Hinweise zur Identität der Täter. Nach dem Tod der Mutter und dem zunehmenden Geschäftsboykott seiner Manufaktur- und Kurzwarenhandlung findet die Familie eine Wohnung in Darmstadt, in der Hochstraße 42. Von dort wird sie gemeinsam in die Karlstraße 66 gezwungen, bevor Ludwig Ranis in Schutzhaft genommen, ins KZ Dachau und von dort weiter ins Konzentrationslager Groß-Rosen verschleppt und in der Euthanasieanstalt Bernburg ermordet wird.  


In Eberstadt erinnern heute Straßenname und Stolperstein an Julius Gernsheimer

Auch aus Darmstädter Vororten müssen alteingesessene Mitbürger nach Darmstadt ziehen. Julius Gernsheimer und seine Frau zwingen NS-Politik und Boykotte bereits im Oktober 1937 zum Umzug in die Heidelberger Straße 6 – und dies obwohl er vor 1933 fest in das Eberstädter Vereins- und Wirtschaftsleben integriert ist. Schließlich betreibt seine Familie in der Pfungstädter Straße 21 seit zwei Generationen ein Familiengeschäft. Seit 1920 führt er das Geschäft für Manufakturwaren und Konfektion als Alleininhaber unter seinem Namen weiter. Heute erinnern in Eberstadt an ihn der Julius-Gernsheimer-Weg und ein Stolperstein, gestiftet von der Turngesellschaft dessen Gründungsmitglied und mehrjähriger Vorsitzender er war.


Vertrieben aus Roßdorf – in Haft in Darmstadt – verschleppt ins KZ Dachau – ermordet nach 22 Tagen – eine Entschädigung „wegen Freiheitsschadens konnte daher nicht zuerkannt werden“ (HHStAW 518 31243, Beschluss vom 05.01.1959)

Im Sommer 1939 müssen Nathan Wolf und seine Ehefrau Gertrude von Roßdorf nach Darmstadt ziehen. Dort sind sie unter der Adresse Mathildenplatz 9 bis zu ihrer Deportation 1941 bzw. 1942 gemeldet. In Roßdorf hat die Familie in der Löwengasse 4 seit 1910 eine Frucht- und Viehhandlung angemeldet, die innerhalb der nächsten Jahre erweitert wird. Gertrude Wolf übernimmt die Tätigkeiten in der Manufaktur-, Textil- & Kolonialwarenhandlung, während Nathan Wolf nach wie vor im Futtermittelgeschäft tätig ist und seine Kundschaft, die Bauern vor Ort, betreut. Ihrer Tochter Clara gelingt es, 1935 in die USA auszuwandern, nachdem die NS-Politik ihr die Möglichkeit nimmt, weiterhin ihren Beruf als Kontoristin und Stenotypistin in der Darmstädter Firma Frohmann & Co (Eisenwaren) tätig zu sein. Ihre Eltern versuchen zu der Zeit noch in Roßdorf das Geschäft aufrecht zu erhalten, leiden aber mehr und mehr unter den Boykotten. In den Novemberpogromen werden die Waren zerstört, ihr Laden im eigenen Haus verwüstet. Am 25. November 1938 müssen sie ihr Geschäft abmelden. Im März 1939 wird ihnen auch noch ihr Grundstück entzogen. In den USA erhält die Tochter vermutlich keine Kenntnis mehr davon, dass ihr Vater in Darmstadt zu Zwangsarbeiten verpflichtet und bereits im Juli 1940 in Schutzhaft genommen wird. Denn im Entschädigungsverfahren wird nur die Zeit, die Nathan Wolf im KZ Dachau inhaftiert ist, berücksichtigt. 

Schreibstubenkarte KZ Dachau Wolf, Nathan 1.1.6.7./ 10783605 ITS Digital Archive. Arolsen Archives.  

Auf der Schreibstubenkarte findet sich für den 26.4. der Eintrag „Strafblock“. Damit gehört Nathan Wolf zu den 13 Zwangsarbeitern aus Darmstadt, die innerhalb der ersten drei Wochen nach ihrem „Zugang“ Folter ausgesetzt waren. Zu dem auf der Schreibstubenkarte vermerkten Datum ist keine der sogenannten (täglichen) „Veränderungsmeldungen“ erhalten, wie Recherchen der Mitarbeiter*innen am Max-Mannheimer-Studienzentrum ergaben. Es ist daher davon auszugehen, dass es sich um „,Strafblöcke‘, in die vor allem jüdische Häftlinge bestimmt wurden“, handelt. NS-Ideologie und Lagerstrukturen führen also dazu, dass Nathan Wolf verschärfter Gewalt und Terror ausgesetzt ist. Er stirbt eine Woche später, am 2. Mai – laut Standesamt um 14 Uhr 30 an „Innere[r] Vergiftung (Sepsis)“. Er sei „somit nur 22 Tage – also keinen vollen Monat – in Haft“ gewesen. Eine Entschädigung „wegen Freiheitsschadens konnte daher nicht zuerkannt werden“ lautet der Beschluss vom 5. Januar 1959 im Entschädigungsverfahren (HHStAW 518 31243).


Keiner in Darmstadt kann sich schützen

Der Stolperstein für Dr. Carl Peter Callmann liegt auf dem Julius-Landsberger-Platz (früher Friedrichstraße 12), an dem Ort, an dem sein Elternhaus stand und seine Mutter bis zu seiner Deportation im November 1941 lebt. Er selbst wohnt mit seiner Familie nach Angaben des Sohnes seit 1930 in der Hügelstraße 9. Bis Ende 1935 kann der evangelisch getaufte Darmstädter Landgerichtsrat durch persönliche Kontakte erwirken, im Amt zu bleiben. Dann zwingt auch ihn die NS-Gesetzgebung aus seinem Beruf. Keine fünf Jahre später muss er Zwangsarbeiten leisten. Der Jurist begegnet Späth und seinen Erpressungsversuchen wortgewandt und kann sich im anschließenden Prozess gegen den Vorwurf der Bestechung erfolgreich wehren. Er wird freigesprochen. Der mit der Ermittlung betraute Gestapobeamte >>>> Bruno Böhm bedroht ihn jedoch im Gerichtssaal und sorgt kurze Zeit später dafür, dass Flugblätter während einer Hausdurchsuchung gefunden werden, die als Inhaftierungs- und Deportationsgrund genügen. 1950, im Strafverfahren gegen Bruno Böhm, bewerten Richter die „Flugblattaktion“ als privat motiviert und selbst im Sinne des NS-Rechts strafbar. Die letzte Nachricht, die Else Callmann durch Überlebende des NS-Terrors erhält, ist, dass ihr Mann 1943 im Ghetto Minsk von der SS erschossen worden sei.

Julius-Landsberger-Platz (früher Friedrichstraße 12)

Lektürehinweise und Quellen (u.a.)
Der Übersicht über die innerstädtische Vertreibungen und die kurzen Einblicke in die Biografien hat die Darmstädter Geschichtswerkstatt für die Projektarbeit erstellt. Sie basieren auf Sichtung und Auswertung der personenbezogenen Dokumente aus den Arolsen Archives und Entschädigungsakten und Archivmaterialien der Archive Darmstadt und Wiesbaden für und über das Gesamtprojekt hinausgehend >>>> siehe Literaturhinweise, den Publikationen des Arbeitskreis Stolpersteine und des >>>> dfg-vk-darmstadt.  

https://arolsen-archives.org – ITS Digital Archive, Arolsen Archives. Digitalisate zu den jeweiligen Personen.
Reuss, J./Hoppe, D. (Hgg): Stolpersteine in Darmstadt. Bd 1 und 2 Darmstadt 2013 und 2022.

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